Wellness-Beiträge



Wellness Next Generation - 25 Jahre Deutscher Wellness Verband

Der Beitratsvorsitzende Dr. med. Mark Schmid-Neuhaus kommentiert anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Deutschen Wellness Verbands das Konzept Wellness, die Rolle des Deutschen Wellness Verbands und die Beziehung zwischen Wellnessbewegung und Aufklärung im Sinne des Philosophen Kant.



Lassen Sie mich beginnen mit einem herzlichen Dank für die Einladung, ein paar Worte zum Start dieser Veranstaltung zu sagen. Ob es mir gelingt, den möglicherweise sehr unterschiedlichen Erwartungen, die sich mit Grußworten verbinden, einigermaßen gerecht zu werden, das werde ich spätestens heute Abend einschätzen können, wenn ich die Summe aus den verschiedenen Feedbacks habe bilden können. Eine Sache wurde mir jedenfalls schon beim Nachdenken über das, was ich gerne vermitteln möchte, sehr klar: 25 Jahre sind bei einem Thema wie „Wellness“ ein eher kurzer Zeitraum, auch wenn das Innovationstempo in der Welt, die wir alltäglich wahrnehmen können...also der Technologien im Informationsbereich wie Smartphones u.ä. sich von Jahr zu Jahr in geradezu atemberaubenden Tempo zu beschleunigen scheint. Wenn das Thema dieser Tagung „wellness next generation“ heißt, erscheint es mir sinnvoll die Frage zu stellen, wie schaut das Tempo von Innovation im Bereich von Wellness tatsächlich aus? Was sind die wesentlichen Bezugspunkte, um die es hier geht und die uns bei der Beantwortung der Frage helfen können, was bedeutet das eigentlich: „25 Jahre Deutscher Wellness Verband“ und auch auf welche Perspektiven sollen wir uns einstellen, wenn von „Next Generation Wellness“ die Rede ist?

Beginnen wir mit dem Deutschen Wellness Verband und meinem persönlichen Engagement für dieses Thema. Es geht zurück auf eine WHO-Fellowship in USA im Jahre 1985, deren Ziel es war, die neuesten amerikanischen Entwicklungen im Bereich der Behandlung von Herz-Kreislaufkrankheiten kennenzulernen und hinsichtlich ihrer Umsetzungsmöglichkeiten im deutschen Gesundheitswesen zu hinterfragen. Was mich am meisten beeindruckte, war der offiziell nicht geplante Besuch des „National Wellness Institute“ in Stevens Point, Wisconsin. Seither bin ich selber vom „Wellness-Virus“ infiziert...und das ist ein „dammed good thing“, wie Bill Hettler, neben Don Ardell und Jack Travis eine der großen Pionierpersönlichkeiten der Wellnessbewegung, es in einem der Basisbücher über Wellness gesagt hat. Jedenfalls hielt ich auf einer wissenschaftlichen Jahrestagung des DAGG 1987, deren Hauptthema Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen war, einen sehr engagierten Vortrag mit dem Titel “Was kann Deutschland vom amerikanischen Wellness-Movement lernen?“ - und lernte kurz darauf Lutz Hertel kennen und begleitete ihn seit der Gründung des Deutschen Wellness Verbandes 1990 als Vorsitzender des Fachbeirates. Im Rückblick erscheinen mir diese 25 Jahre - und wenn man den Start der Wellness-Bewegung auf die Veröffentlichung des Buches von Dr. Halbert L. Dunn’s High-Level Wellness (1961) datiert, dann reden wir über 50 Jahre - enorm kurz. In einer so scheinbar schnelllebigen Zeit wie der unseren, mag das paradox erscheinen; aber wenn man diese Paradoxie verstehen möchte, erschließt sich einem ein Zugang zu dem, was Wellness wirklich meint und damit auch die Möglichkeit einer Standortbestimmung, die der Wellnessbewegung ein solideres Fundament zuweisen kann. Vielleicht kann ich mit den nachfolgenden Gedanken dazu beitragen, das Fundament, um das es geht, ein Stückchen weiter herauszuarbeiten. Denn ich glaube, dass es Ihnen ähnlich gehen könnte, wie es mir gegangen ist: irgendwie sind Sie von Wellness begeistert, der Virus hat Sie erwischt. Sie denken: das ist wirklich etwas Gutes - und dann passiert relativ wenig. Jedenfalls nicht der Hit, den Sie erwartet haben. Ich denke, dass ich Ihnen das auch heute so kurz sagen muss, damit Sie sich von den tatsächlichen Schwierigkeiten nicht von einer so guten Sache wie dem Engagement für Wellness abbringen lassen. Die Schwierigkeiten, die Sie überwinden müssen, sind wahrscheinlich ganz andere als die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert waren.

Es gibt einen nachdenklichen kleinen Aufsatz von Lutz Hertel, der vor kurzem publiziert worden ist mit dem Titel: „Das Wellness-Wunder: Kritischer Rückblick – realistischer Ausblick“. Ich habe Lutz Hertel gebeten, für jeden von Ihnen ein Exemplar mitzubringen. Dieser kleine Aufsatz ist auch ein Paradox, weil er in Wahrheit ein GROSSER AUFSATZ ist. Er beschreibt sehr exakt, was Ihnen passieren kann, wenn Sie sich wirklich für Wellness begeistern, so wie wir das getan haben. Und weil Sie zu dieser Veranstaltung gekommen sind, nehme ich an, dass das auch bei Ihnen der Fall ist.

Eine der Schwierigkeiten, mit der die Wellnessbewegung, soweit ich sie überschaue, immer wieder konfrontiert war, ist die Klärung der Standortbeziehung innerhalb des Marktes, auf dem sie ihre Produkte und Leistungen anbietet. Nahe liegend war am Anfang, diesen Standort innerhalb des Gesundheitswesens und insbesondere im Bezug zum Medizinsystem zu suchen. Was aber, wenn das Medizinsystem so in Schwierigkeiten ist, wie es heute beim genauen Hinschauen der Fall ist? Vielleicht ist hier ein beachtlicher Teil der Schwierigkeiten versteckt, mit der auch die Wellnessbewegung zu kämpfen hat?

Bei dieser Grunddiagnose möchte ich mich auf eine Zeitdiagnose von Albert Einstein stützen, in der sich intellektuelle Brillanz und große Klarsichtigkeit verbinden:

„Perfection of means and confusion of goals seem,
in my opinion, to characterize our age“

Übersetzt: Perfektionierung unserer Mittel und Konfusion hinsichtlich unserer Ziele scheinen meiner Meinung nach unsere gegenwärtige Epoche zu charakterisieren.

Diese Diagnose kommentiere ich natürlich aus der Sicht eines Arztes mit Blick auf das Gesundheitswesen. Nur scheinen mir die hier sichtbar werdenden Aspekte gut auf andere Bereiche unserer Gesellschaft anwendbar zu sein und in deshalb auch auf den Wellnessbereich übertragbar zu sein.

Vor uns liegen Neuentscheidungen, die Mut und Übersicht erfordern. Der Mythos der Machbarkeit, der uns in eine in vieler Hinsicht unreflektierte Moderne geführt hat, konfrontiert uns auch mit seinen Konsequenzen, die sich in den Konflikthaftigkeiten der Wert- und Zielentscheidungen hinsichtlich der weiteren Gestaltung unseres Gesundheitswesens wiederfinden.
Wir werden die Zukunft nicht gestalten können, wenn wir uns dabei weiter vor allem von den naiven Mythen der Moderne der Machbarkeit, denen wir allerdings wesentliche Fortschritte in vielen technischen Disziplinen der Medizin in den letzten 100 Jahren verdanken, leiten lassen. Der Abschied von den Verheißungen des biomedizinischen Modells fällt schwer. Die angemessene Einbeziehung von Gesundheitsförderung und Prävention in unser Gesundheitswesen bedeutet eine Erweiterung unserer Handlungsperspektiven, die als Ausgangspunkt den Kontext der „reflexiven Modernisierung“ fordert und ein Verharren in einem Zustand der Konfusion hinsichtlich unserer Zielsetzungen nicht erlaubt.
Dieser Prozess kann nicht von den Gesundheitsberufen alleine geleistet werden. Er fordert das Engagement der gesamten Gemeinschaft. Der Weg hierzu ist ein Ernst gemeinter Dialog, in dem jeder sich der Grenzen seines Wissens bewusst ist, aber andererseits auch zu seinen Rechten und Pflichten als Bürger steht. Das Ergebnis eines solchen Dialoges könnte eine alle einbindende gemeinsame Vision sein, die uns erlaubt, die Stagnation und das Oszillieren in den für das Gesundheitswesen so lähmenden strukturellen Konflikten aufzugeben und uns auf eine kooperativere Zukunft einzustellen.
Ich denke, dass die Wellness-Bewegung hier sogar in besonderer Weise aufgefordert ist, kreative Beiträge für die Gestaltung innovativer Lösungen zu entwickeln und möchte das mit dem folgenden Schemabild verdeutlichen:

 

Gesundheitskontinuum

 

Sie sehen hier deutlich, worum es der Wellnessbewegung vor allem gehen sollte: Potentiale entwickeln, Potentiale entwickeln, Potentiale entwickeln.

Erlauben Sie mir am Ende aber auch noch einmal an den Anfang - also unseren Start - zurückzukehren und die Frage, um was für ein Projekt es letzten Endes eigentlich geht: Für uns (die Leute der ersten Generation der deutschen Wellnessbewegung) schien sich damals die Möglichkeit zu bieten, so etwas wie einen Traum zu entwickeln von einer Zukunft, in der sich „mündige Bürger“ ihrer Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in Sachen Gesundheit gewahr werden und die Initiative ergreifen, diese Möglichkeiten für sich zu erobern. Wir haben diesen Traum auch heute noch, wenngleich wir um eine kritische Betrachtung, was mit dem Traum passiert ist, nicht herum kommen. Dennoch: wir haben diesen Traum auch heute nicht aufgegeben, weil uns inzwischen klarer geworden ist, um was für ein Projekt es hierbei tatsächlich geht:
Es geht um mehr als Wellness oder Medizin oder die Entwicklung bestimmter Märkte. Im Grunde geht es um die Weiterführung des Projektes der „Aufklärung“ im Sinne von Kant, d.h. eines Wertebegriffes, der das betrifft, was jedermann notwendigerweise interessieren müsste. „Aufklärung“ konzentriert sich auf die Bestimmung des Menschen. Es geht ihr um den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, um die Rechte jedes Menschen also, der als solcher auch kein Ding ist, sondern eine mündige Person mit ihrer eigenen Würde. Die Aufklärung versucht philosophisch zu begründen und praktisch zu verwirklichen, was jedem Menschen von Natur aus zukommt. Sie versteht dieses Naturrecht als ein Bündel von Grund- und Menschenrechten, auf die alle Menschen ein Anrecht haben. Ihr Zentrum bilden geistige und politische Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Recht auf Eigentum. Universell realisierbar sind sie nur in einem Völkerbund aller Staaten, die gemeinsam die allgemeinen Rechte aller Menschen anerkennen und sich für deren Umsetzung einsetzen.
Ein Blick auf unsere weltweite gegenwärtige politische Situation macht deutlich, dass das „Projekt Aufklärung“ noch nicht abgeschlossen ist, sondern dass wir uns weiter um seine Realisierung bemühen müssen, ohne uns von den Schwierigkeiten, denen wir dabei begegnen, den Mut für die nächsten vor uns liegenden Schritte nehmen zu lassen.

Um die Verknüpfung zum Thema Wellness noch expliziter zu machen, erlauben Sie mir, Ihnen Immanuel Kant und das „Projekt Aufklärung“ hier noch einmal auf den Punkt zu bringen.

Das schrieb Kant zur Definition der Aufklärung 1784:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. "Wage zu wissen!" Sapere aude! Das ist es doch, was uns bewegen und leiten sollte.“

Kant ist nicht ganz einfach zu lesen. Er formuliert seine Botschaften nicht im KISS-Format (Keep it Short and Simple). Kant erklärt, warum ein großer Teil der Menschen, obwohl sie längst erwachsen sind und fähig wären selbst zu denken, zeit ihres Lebens unmündig bleiben und dies auch noch gerne sind. Der Grund dafür sei „Faulheit und Feigheit“. Denn es sei bequem, unmündig zu sein. Das „verdrießliche Geschäft“ des eigenständigen Denkens könne leicht auf andere übertragen werden. Wer einen Arzt habe, müsse seine Diät nicht selbst beurteilen, anstatt sich selbst Wissen anzueignen, könne man sich auch einfach Bücher kaufen, wer sich einen „Seelsorger“ leisten könne, brauche selbst kein Gewissen. Wer einen „Wellness-Betreuer“ hat, kriegt die Gesundheit und Wellness einfach geliefert. Somit sei es nicht nötig, selbst zu denken oder etwas selbst zu tun, und der Großteil der Menschen mache von dieser Möglichkeit Gebrauch. So werde es für andere leicht, sich zu den „Vormündern“ dieser Menschen aufzuschwingen. Diese Vormünder sorgten auch dafür, dass die „unmündigen“ Menschen „den Schritt zu Mündigkeit“ außer für beschwerlich auch noch für gefährlich hielten. Kant vergleicht hier die unaufgeklärten Menschen drastisch mit „Hausvieh“, das dumm gemacht worden sei. So werde es für jeden einzelnen Menschen schwer, sich alleine aus der Unmündigkeit zu befreien. Zum einen, weil er sie „liebgewonnen“ habe, weil sie bequem sei, und zum anderen, weil er inzwischen größtenteils wirklich unfähig sei, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn nie den Versuch dazu habe machen lassen und ihn davon abgeschreckt habe.

Wegen dieser Zustände habe der einzelne Mensch nur geringe Möglichkeiten, sich selbst aufzuklären. Wahrscheinlicher sei es, dass sich ein „Publikum“, also im Gegensatz zum Individuum die gesamte Gesellschaft eines Staates oder große Teile davon, aufkläre. Denn unter der Vielzahl der unmündigen Bürger fänden sich immer ein paar „Selbstdenkende“. Als Vorbedingung fordert Kant Freiheit. Unter dieser Voraussetzung scheint ihm die Aufklärung der Öffentlichkeit „beinahe unausbleiblich“. Diese durch eine Revolution durchzusetzen lehnt Kant ab. Eine Revolution werde nie eine „wahre Reform der Denkungsart“ ermöglichen. Er setzt also auf Reform statt Revolution.

Die von Kant als notwendige Voraussetzung der Aufklärung geforderte Freiheit ist das Recht, von seiner Vernunft in allen Bereichen „öffentlichen Gebrauch zu machen“. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft beinhaltet die Redefreiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung in Rede und Schrift.
Die Frage „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“ verneint Kant, aber man lebe jetzt in einem Zeitalter der Aufklärung.

Was Kant damals als Antwort auf die Frage „was ist Aufklärung?“  schrieb, diese Punkte sind absolut zutreffend für die Situation der Wellnessbewegung heute und den geistigen Zustand unserer Bevölkerung. Die Basis von REAL Wellness, die Ihnen Don Ardell hier vortragen wird, ist der mutige Einsatz des eigenen Verstands, entgegen der üblichen Gewohnheit, dafür zu faul und zu feige sowie weitgehend durch vielfältige Macht- und Manipulationsmechanismen davon entwöhnt zu sein. Ein qualitativ besseres Leben, auch im humanistischen Sinne, kann nicht wirklich durch eigene Passivität geschaffen werden, so wie sie heute den Kunden im Spa Business verkauft wird. "Wage zu wissen!" ist ein Appell nicht nur an die Wellness Suchenden, sondern auch an die Anbieter von Leistungen, die zu Wellness beitragen wollen. Diese Aufklärungsarbeit ist genau das, wofür sich der Deutschen Wellness Verband, wofür Sie, lieber Lutz Hertel, und ich uns seit zweieinhalb Jahrzehnten einsetzen.

Und es gibt noch einen weiteren Punkt, der mir am Herzen liegt: Wir, die Gründer-Generation, sollten uns gewahr sein, dass wir den Staffelstab an die nächste Generation weitergeben müssen. Dieser Stab ist genau das, was ich hier versucht habe, auf den Punkt zu bringen: Wellness gehört zu dem unabgeschlossenen „Projekt Aufklärung“ und wir hoffen darauf, dass Sie mit Engagement diesen Stab übernehmen und das „Projekt Aufklärung“ weiter fortsetzen.

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